Die geschichtlichen Hintergründe zur Gründung des Fördervereins "Bürger pro A"
Am 24. November 1995 wurde der Verein „Bürger pro A" gegründet, ein Hoffnungsschimmer in schwierigen Zeiten und Ausdruck einer großen Solidarität der Kasseler Bürgerschaft für ihr Staatstheater.
Die Stadt Kassel hat sich in den letzten 25 Jahren wirtschaftlich stark entwickelt, einige Jahre gehörte sie sogar zu den dynamischsten deutschen Großstädten. Das war im Jahr 1995 noch ganz anders. Die Wiedervereinigung lag erst sechs Jahre zurück, die neue Lage in der Mitte Deutschlands versprach große Chancen, die sich aber zunächst finanziell nicht bemerkbar machten. Der Haushalt der Stadt war vom Regierungspräsidenten nicht genehmigt worden, jedes Jahr fehlten rund 100 Millionen Mark in der städtischen Kasse.
So war es nicht verwunderlich, dass die Sparbemühungen des Kämmerers vor dem Staatstheater nicht Halt machen konnten. Der Etat des Staatstheaters betrug 1995 rund 46 Mio DM, aufgeteilt in 52% Finanzierungsanteil des Landes und 48% aus der städtischen Kasse. Der Versuch, die Umlandgemeinden, die ja das Theater ebenfalls nutzen, an der Finanzierung zu beteiligen, war wiederholt gescheitert. Bis 1997 sollte der Etat auf 38 Mio DM schrumpfen.
Der damalige Intendant des Staatstheaters, Michael Leinert, sah sich gezwungen, neben anderen Maßnahmen auch die Rückstufung des Orchesters von der Tarifklasse A nach B zur Diskussionsgrundlage mit den Verantwortlichen in Stadt und Land zu machen. Obwohl die Initiative zu den Einsparungen von der Stadt Kassel ausging, hätte das Land Hessen entsprechend dem Theatervertrag im Fall einer Umsetzung der Sparpläne seinen Anteil an der Finanzierung von Staatstheater und Staatsorchester ebenfalls reduziert. Damit wäre die seit Jahren praktizierte Gleichbehandlung der drei hessischen Staatstheater Darmstadt, Kassel und Wiesbaden zu Ungunsten von Kassel beendet worden. Die Orchester in Wiesbaden und Darmstadt sollten den A-Status behalten.
Was bedeuten diese Buchstaben zur Klassifizierung eines Orchesters?
Der Tarifvertrag für Kulturorchester (TVK) regelt seit 1971 Arbeitsbedingungen und Vergütung der Mitglieder von rund 130 öffentlich getragenen deutschen Kulturorchestern. Die Vergütungsgruppen A,B,C und D richten sich dabei primär nach der Zahl der Planstellen Wenn eine gewisse Planstellenzahl erreicht ist (für TVK A wären das 99 Musiker) müssen die Mitglieder des Orchesters zwingend nach der Einsortierung in die jeweilige Gruppe vergütet werden. Es ist jedoch möglich und gängige Praxis durch Beschluss der Rechtsträger ein Orchester mit weniger Mitgliedern in eine höhere Tarifklasse einzustufen. Dies war der Fall bei den drei hessischen Staatsorchestern, die jeweils nur 78 Musiker haben.
Warum ist die Einordnung in die Tarifklasse A für die Qualität eines Orchesters wichtig?
Musiker, die ihr Hochschulstudium abgeschlossen haben, werden zunächst versuchen, ein Probespiel bei einem A-Orchester zu gewinnen. Neben dem höheren Verdienst sind A-Orchester meist in Großstädten mit entsprechendem Kulturangebot angesiedelt. Ein A-Theater verfügt gewöhnlich über mehr Mittel für interessante Inszenierungen und hervorragende Solisten. Gefragte Dirigenten nehmen gerne einen Ruf an ein A-Haus an und lassen auf eine musikalisch befriedigende Zusammenarbeit hoffen. Deshalb ist die Chance eines A-Orchesters, bei einem Probespiel eine Stelle mit einem exzellenten Musiker besetzen zu können höher.
Zu Beginn der 1960er Jahre hatte das Orchester in Kassel 90 Musikerinnen und Musiker, zwischen 1967 und 1974 kam es zu einer Reduzierung um 12 Stellen. Das große symphonische Repertoire war nur noch mit Aushilfen aufführbar. Gleichzeitig wurden Orchester vergleichbarer Städte personell aufgestockt.
Nach jahrelangen Bemühungen der Musiker und der künstlerischen Leiter (besonders sei hier Adam Fischer genannt) beschloss die Landesregierung in Wiesbaden 1991, den drei hessischen Staatstheatern den A- Status zuzusprechen, ohne jedoch die Planstellenzahl zu erhöhen. Dadurch sollte die Wettbewerbsfähigkeit auch in Zeiten knapper Kassen gewahrt werden.
In der Folgezeit stieg die Zahl erstklassiger Bewerber um freiwerdende Stellen sprunghaft an.
Vier Jahre später bereute man die Entscheidung, die Theater hochgestuft zu haben, bereits wieder.
In einer Sitzung des Verwaltungsausschusses am 14.September 1995 beschlossen Vertreter von Stadt und Land für das Jahr 1997 Kürzungen des Haushaltes des Staatstheaters Kassel in Höhe von 4 Mio DM (2,08 Land, 1,92 Stadt). Dabei sollte die Rückstufung des Orchesters nach TVK B 1,5 Mio DM erbringen, eine Summe, die bei näherer Betrachtung nicht haltbar war. Bereits Mitte November sollte die Entscheidung über die Rückstufung in den Koalitionsausschüssen fallen, die Zustimmung der Mehrheitsfraktionen im Landtag sah der zuständige Staatssekretär als reine Formsache.
Die Orchestermusiker in Kassel erfuhren durch einen Bericht in der HNA am 16.9.95 von der geplanten Rückstufung. Sofort begannen Überlegungen, wie der Erhalt des mühsam erkämpften A-Status zu bewerkstelligen sei. Eine besondere Rolle in dieser Zeit der ersten Ideensammlung spielte der damalige erste Kapellmeister Bernhard Lang. Er ermunterte den Orchestervorstand, schnell den Kontakt mit Vertretern der Wirtschaft und der Politik zu suchen und immer wieder auf den Standortfaktor Kultur hinzuweisen. "Niemand hört gerne, dass vergleichbare Städte wie Braunschweig, Bremen oder Mannheim kulturell an Kassel vorbeiziehen."
Einer der ersten Gesprächspartner des Orchestervorstands war Staatsminister a.D. Hans Krollmann. Er kannte die Problematik in allen Facetten ("das kann ich vorwärts und rückwärts beten...") und war bereit, dem Orchester zu helfen ("das werde ich ja wohl müssen").
Sein Engagement war ein absoluter Glücksfall. Herr Krollmann wusste natürlich, an wen er sich wenden musste und er wurde unser Anwalt und Helfer in allen Belangen. Über die Jahre entwickelte sich eine starke Beziehung zum Orchester, das ihn zu seinem Ehrenmitglied ernannte. Wir sind Herrn Krollmann für sein großes Engagement sehr dankbar!
Sehr schnell erklärte auch Herr Leonhard Scheuch, Geschäftsführer des Bärenreiter Verlags, seine Bereitschaft, sich zu engagieren, ebenso der Verleger der HNA Herr Rainer Dierichs. Der erste erweiterte Vorstand des Vereins „Bürger pro A" bestand neben den genannten Personen aus Wolfgang Windfuhr, Bernd Behrens, Wolfgang Timaeus, sowie als Vertreter des Orchesters Konzertmeister Otfrid Nies.
Das positive Echo in der Bevölkerung machte dem Orchester Mut und war ein großer Ansporn. Die Hauptaufgabe des Vereins bestand zunächst darin, Spenden einzuwerben und eine breite kulturpolitische Debatte zu moderieren.
Nach intensiven Gesprächen war das Land bereit, seinen Anteil an der Finanzierung des Orchesters nicht zurückzufahren. Deshalb setzte sich das Orchester zum Ziel, der Stadt Kassel mit 750.000 DM unter die Arme zu greifen, um sie beim Aufbringen des städtischen Anteils zu unterstützen. Diese Summe sollte sich aus dem Erlös von Benefizkonzerten, die das Orchester in seiner Freizeit spielte, sowie aus Sponsorengeldern zusammensetzen. In dieser kritischen Situation wurde den Orchestermitgliedern jedoch schnell klar, dass weder Benefizkonzerte noch Sponsorengelder alleine ausreichten, um diese enorme Summe zugunsten der Stadt Kassel aufzubringen. Das Orchester untermauerte die eigene Glaubwürdigkeit, indem es auf freiwilliger Basis für eine auf drei Jahre begrenzte Zeit auf Gehaltsanteile verzichtete. So konnte nachdrücklich klargestellt werden, dass es dem Staatsorchester Kassel in erster Linie um den mit dem A-Status verbundenen Qualitätsanspruch ging, weniger jedoch um finanzielle "Bestandswahrung".
In einer langen Orchesterversammlung am 4. Dezember 1995 beschloss eine große Mehrheit ein sozial gestaffeltes Modell, nach dem jedes Orchestermitglied für die Jahre 1997 und 1998 je ein Netto- Monatsgehalt der Stadt als Spende zur Verfügung stellen sollte. Mittler zum "Einsammeln" dieser Spenden war der Verein „Bürger pro A". Um den Verein sofort handlungsfähig zu machen, wurden die Beiträge auf drei Jahre umgelegt, die Einzahlungen der Orchestermusiker begannen im Januar 1996. Es ist immer noch erstaunlich, dass 71 von 76 Musikern bereit waren, an diesem Modell mitzuwirken.
Die Bereitschaft eines Orchesters, selbst am Erhalt seines Status mitzuwirken, war bis dato einmalig in der deutschen Theater-und Orchesterlandschaft, sprach sich wie ein Lauffeuer herum und warf ein gutes Licht auf das Kasseler Theater.
Als Gegenleistung für ihren Gehaltsverzicht forderten die Musiker neben dem Erhalt des A-Status` auch eine Bestandsgarantie für die 78 Planstellen.
Am 15.12. 1995 fand das erste Benefiz- und Gründungskonzert unter der Leitung des damaligen GMDs Georg Schmöhe und des 1. Kapellmeisters Bernhard Lang statt. Schon damals spürte das Orchester das große Interesse in der Kasseler Bevölkerung und die Zuwendung des Publikums. Das sollte sich im Lauf der Jahre immer weiter verstärken. Die Pro-A Konzerte, die das Orchester in seiner Freizeit spielte und zum Teil auch selber organisierte, zeichneten sich durch eine ganz besondere Atmosphäre aus. Die Begeisterung und das Gemeinschaftsgefühl von Musikern und Publikum war spürbar.
Von Anfang an setzte sich auch der ehemalige GMD Adam Fischer für den Erhalt des A-Status`ein. Er war bereit, mehrere Benefizkonzerte zu dirigieren, so am 24.3. 96 in der Martinskirche. Auf dem Programm standen Schuberts "Unvollendete" und Beethovens "Eroica". Am 7.7. 97 folgte ein Konzert mit Mahlers 9. Sinfonie. Die früheren GMDs James Lockhart und Gerd Albrecht dirigierten ebenfalls unentgeltlich Benefizkonzerte, ebenso der frühere erste Kapellmeister Marc Piollet. Immer wieder traten auch Orchestermusiker und Mitglieder des Sängerensembles als Solisten auf. Stellvertretend für alle sei hier Wolfram Geiss als Solist in Edward Elgars Cellokonzert genannt.
Im Rahmen der Gespräche mit Vertretern der Wirtschaft hatte der Orchestervorstand einen Termin beim damaligen Vorstandsvorsitzenden der B. Braun Melsungen AG, Ludwig Georg Braun. Herr Braun war bereit zu einer außerordentlich großzügigen Spende. Das Geld war jedoch zweckgebunden und sollte in ein Wirtschaftlichkeitsgutachten für das Staatstheater fließen. Auch die Sparkassenstiftung beteiligte sich mit einer großen Summe an den Kosten.
Ende 1996 wurde die Firma WIBERA mit dem Gutachten beauftragt. WIBERA hatte die besten Referenzen bei der Überprüfung von Theatern; mit dem Leiter des Wirtschaftlichkeitsgutachtens, Herrn Dr. Bungenstab, stand ein ausgewiesener Theaterfachmann zur Verfügung.
Die Grundfrage lautete: Welche langfristigen finanziellen und strukturellen Bedingungen sind zum Erhalt des künstlerischen Ranges des Staatstheaters Kassel nötig, insbesondere zum Erhalt des A-Status und der Sparte Ballett. Angestrebt wurde eine 5-jährige Finanzierungsvereinbarung zwischen Stadt und Land, um dem Theater Planungssicherheit zu geben. Die Fragestellung betraf vor allem die folgenden Punkte:
- Welche Rechts- und Betriebsform ist die geeignete (eine GmbH wurde angestrebt)
- Wie kann die bauliche Werkstättenproblematik gelöst werden (damals waren Schreinerei und Malsaal noch im Theatergebäude untergebracht)
- Welche Vorteile würde eine Herauslösung bzw. Verselbständigung des Orchesters bringen?
- Gibt es Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Theatern?
- Gestaltung der Spielpläne und des Spielbetriebes
Die Mitarbeiter der Firma WIBERA arbeiteten in Abstimmung mit dem Personalrat des Staatstheaters und konnten nach anfänglichen Bedenken von Teilen der Belegschaft störungsfrei und fast "sang- und klanglos" ihre Aufgabe bewältigen. Das Ergebnis des Wirtschaftlichkeitsgutachtens war für das Staatstheater Kassel sehr positiv. Für ein Drei- Sparten-Haus mit A-Status sei das Staatstheater Kassel eher unterfinanziert. Auf keinen Fall seien die von der Stadt geplanten Einsparungen ohne Qualitätseinbußen zu bewerkstelligen.
Die Stadt Kassel reagierte auf diese Ergebnisse, indem sie von der fest geplanten Einsparsumme von vier Mio DM. abrückte und in neue Verhandlungen eintreten wollte. Dabei bekräftigten die Kommunalpolitiker den Wunsch, ein qualitativ hochwertiges Drei -Sparten -Theater zu erhalten.
Von der zunächst erwünschten Betriebsform der GmbH nahm man Abstand. Der Regiebetrieb blieb erhalten, wurde allerdings von kameralistischen Zwängen befreit. Eine finanzielle Planungssicherheit für mindestens drei Jahre wurde angestrebt.
Die räumliche Enge im Staatstheater blieb noch einige Jahre bestehen. Erst mit dem Umbau des Theaters ab dem Jahr 2004 konnten einige Werkstätten in den neuen Standort "Vor dem Osterholz" ziehen. Dort entstand das Technik- und Probenzentrum (TuP). Das Orchester erhielt den ehemaligen Malsaal als neuen Probenraum und hatte nun endlich eine Arbeitsstätte mit Platz für alle Musiker und einer Deckenhöhe, die klanglich ausgefeilte Arbeit ermöglichte. Das Herauslösen des Orchesters aus dem Verbund des Theaters war weder von Theater- noch von Orchesterseite her erwünscht, es hätte darüberhinaus keine finanziellen Vorteile gebracht.
Kooperationsmöglichkeiten mit anderen Theatern wurden angedacht, sie hätten sich jedoch sowohl organisatorisch als auch logistisch nur mit enormem Aufwand umsetzen lassen.
Die Gestaltung der Spielpläne und des Spielbetriebes gehört zur künstlerischen Freiheit des Intendanten und seines Leitungsteams; deren Verantwortlichkeit sollte unangetastet bleiben.
Die Veröffentlichung des WIBERA-Gutachtens versachlichte die Diskussion um immer neue Sparauflagen. Zwar blieb die finanzielle Situation der Stadt Kassel noch für einige Jahre angespannt, es gab aber keine weiteren Versuche, den A-Status des Staatstheaters Kassel zurückzunehmen.
Dies alles wäre ohne das große Engagement aus der Kasseler Bürgerschaft nicht möglich gewesen. Wie ein Wunder erscheint im Nachhinein, wie schnell sich der Verein formieren konnte und wieviele Menschen ihm gleich im ersten Monat beitraten. Heute hat„Bürger pro A" über 600 Mitglieder.
Ein herzliches Dankeschön all unseren Freunden und Förderern für ihr Engagement, ihre Mitgliedsbeiträge und Spenden und natürlich für ihr treues Interesse an unserer Arbeit. Wir hoffen auf viele beeindruckende gemeinsame Konzert- und Theatererlebnisse.